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Die Königin fährt Schlitten. Über den Winterhimmel hetzt sie ihre Hunde, peitscht sie durch die Kälte, lacht, dass der Spiegel springt und klirrend bricht. Grelles Gelächter. Sie lacht und lacht, und tausend Splitter rieseln auf die Erde.
Lio steckt die Gabel in die Bratwurst, drückt sie in die Sauce, sägt mit dem Messer in ihrer Mitte, durchtrennt die Pelle, durchtrennt die körnige Füllung und schneidet in der Sauce weiter. Fest hält die dickliche Faust die Gabel umschlossen. Jetzt rutscht das eine Wurststück weg, die Faust haut auf den Teller, die Gabel kippt in den Kartoffelbrei, das Mädchen leckt die Außenkante seiner Faust ab, legt dabei den Kopf schief und tunkt den Pferdeschwanz ins Essen. Ich stelle mein Weinglas ab und sehe aus dem Fenster des menschenleeren Gasthofs in diesem ausgestorbenen Dorf an der früheren Grenzlinie der beiden deutschen Staaten, der Gesellschaftsordnungen, der Blöcke, der Ideologien. Ein Grenzwall durchzieht die Landschaft, aufgefaltet wie ein Stoffwulst, eilig zusammengestichelt mit Panzersperren und Wachtürmen, Schießanlagen hineingeheftet in den Lumpenhaufen des Kalten Krieges; jetzt ein kilometerlanges Freilichtmuseum, da wo Bayern endet und Thüringen beginnt. Ich trinke einen Schluck und versuche, Lio nicht nach Lio zu sehen, die mit der Serviette auf dem Tischtuch herumwischt. Mein Handy klingelt, doch es ist nicht der Verlag, dem ich meine neue Graphic Novel zur Veröffentlichung geschickt habe, sondern die Bildredaktion der Postille, die auf eine Karikatur zum Rettungsschirm für pleitebedrohte Eurostaaten wartet, kommt jetzt Ruhe in den Karton? Wird es eine Ansteckung geben? Da mir nichts eingefallen ist, ich folglich nichts gezeichnet und auch nichts zu berichten habe, drücke ich den Anruf weg und schalte das Telefon aus. Lio kämpft mit der Bratwurst, deren andere Hälfte jetzt über den Tellerrand hüpft bis eine kleine Plastikvase mit zwei Plastiknelken drin sie aufhält. Lio sieht dem Wurststück nach, schüttelt nachsichtig den Kopf und legt es zurück auf den Teller. Ob stumpfe Messer, zähe Wursthaut, spritzende Saucen, ob nasses Bett, kalte Füße, verklebte Haare, ob Spritzen, Sonden, Infusionen und Punktionen, keiner nimmt die Tatsachen des Lebens so bereitwillig hin wie meine Tochter. Duldsam wie ein Schaf akzeptiert sie den Reibungswiderstand alltäglichen Ungeschicks, der jede Tätigkeit zum feinmotorischen Exerzitium macht. Ob in Form winziger Knöpfe, die aus den immer zu großen Knopflöchern rutschen, ob als schwer gängige Reißverschlüssefeiserschlüsse, als verfusselte und immer wieder aufspringende Klettverschlüsse, als auslaufende Filz– und abbrechende Holzstifte, zersplitternde CD-Scheiben oder sich in ihre Bestandteile auflösende Elektrogeräte, Lio akzeptiert alles, sogar, dass das Ungemach in Gestalt von Nadeln, Schläuchen, kalten Rohren in sie eindringt und unter Schmerzen in ihr herumfuhrwerkt. Duldsam wie ein Schaf wird sie auch das Verschwinden ihres Vaters hinnehmen wie einen Regengraupeltag im Frühsommer. Ich versuche, den Kopf zu heben, den Druck des Rückenpanzers zu lockern, den ich trage, seit wir auf der Reise sind, seit wir in einer langen grau asphaltierten Diagonale von Grenze zu Grenze, von Zürich nach Stettin und weiter an die Ostseeküste, Autobahn um Autobahn um Autobahn, den Raum durchfahren, die Zeit durchqueren. Das Mädchen und ich. Schnell leere ich mein Gas, ziehe den Kopf zwischen die Schultern, warte ab. Lio schaufelt Kartoffelbrei. Sie löffelt, schluckt. Ein langer Weg. Die Reste der Mahlzeit schiebt sie mit dem Messer auf die Gabel, kratzt den Teller aus, bis er leer ist. Nichts hat sie gekonnt, nicht einmal saugen oder strampeln und ihr Schreien ist das leise Maunzen einer Katze gewesen. Steif und still ist sie da gelegen und hat den blaugrauen Blick in den Himmel geheftet, aus dem die Flocken fielen. Dichter Schneegriesel, feinstes Pulver und die allerkleinsten, dem Menschenauge unsichtbaren Spiegelsplitter. Sie war der Schneekönigin vom Schlitten gefallen und mitten hinein in den weißen Korbwagen an meinem Küchenfenster. Mit vielen Zungenstrichen schleckt sie den Löffel sauber, legt ihn beiseite, faltet die Hände im Schoß und wartet, bis der Wirt den Teller abräumt. Apfelstrufel, Eis, Vanillesauce, Schlagrahm, heiße Schokolade, eine Cola und Gummibären, will sie zum Nachtisch. „Gummibären gibt‘s nicht“, brummt der Wirt, und Lio nimmt auch das still hin. Sie rechnet nicht mit der Änderbarkeit der Tatsachen, sie rechnet nicht mit der Beeinflussbarkeit der Welt. Eines Tages ist der gläserne Wurm der Magensonde zum letzten Mal aus ihr heraus gezogen worden, und der Löffel kam. Lio hatte noch keinen Namen für ihn, doch sie wusste, dass er kühl war und hart, dass er seinen Inhalt nicht leicht hergab, dass er voll war, dann wieder leer, und dass er irgendwann von mir weggeräumt wurde. Was auf ihm lag, war warm und weich, und wurde, wenn es auf den Arm fiel kühl und klebrig. Lio saß verloren in ihren Empfindungen, ich saß, den Löffel voller Brei an ihren Lippen, und wartete. Wartete, bis ich das Innere ihres Mundes sah, rot und leuchtend und schleimig vom Brei. Da hinein steckte ich den Löffel und wartete. Wartete, dass sie die Zunge bewegte, raus und rein, den Brei bewegte, vor und zurück, und über die Hürde der Lippen wieder nach draußen auf Kinn und Hals. In einer breiten Bahn rutschte dem Kind der verspeichelte Brei als weiße Kaskade über das Gesicht auf Latz und Bauch. Nach gut einer Dreiviertelstunde stellte ich den halb geleerten Kinderteller beiseite, ging auf den Balkon, um zu rauchen und um das Leben zu sehen, das in seiner mittäglichen Hektik durch die Straße eilte. Da gingen drei Männer in rosa Hemden und dunklen Anzügen, kaum älter als ich, setzten die braunen Lederschuhe einen vor den anderen, ins Gespräch vertieft. Junge Frauen trugen Knistertüten mit dem Thaiessen vom Take-Away in den nahe gelegenen Friedhof. Sommerkleider, spitzes Lachen, High Heels an den Füßen. Ein ganz normaler Werktag im August. Lio hing mit rundem Rücken im Hochstuhl und wartete, bis ich mich gefasst hatte und weiter löffelte. Und wieder stieß und schob und zog sie, bewegte den Brei mit der Zunge vor und zurück. Zwischendrin steckte sie die Finger in den Mund, um die wunden Zahnleisten zu bekauen. Hell tropfte der Speichel über ihre Hände und versickerte in den Ärmeln ihres Kittelchens. Wir übten, übten wochenlang und ganz allmählich, unmerklich, begannen die Verhältnisse sich zu kehren: Der größere Teil des Breis verschwand in Lios Bauch, der kleinere nur verteilte sich auf Latz, Stuhl, Kleidern und in den Haaren von Vater und Kind. Ich ächzte. Lio lachte. Nur noch ein Jahr sollte es dauern, bis sie den ganzen Brei schluckte, doch damit nicht genug. Sie griff nach dem Löffel und aß selbst. Und Lio aß mit Kraft. Sie hielt den Löffel mit der Faust, stach ihn in den Brei, dass es kleckerte, tropfte und schmierte, doch sie schaffte es, dass sich ein Häufchen davon in der Mulde des Löffels ansammelte, führte diesen Richtung Mund, und, um an den Brei zu gelangen, kippte sie den Löffel, kippte ihn, bevor er im Mund angelangt war, der Brei fiel auf den Latz, rutschte unter den Bügel des Hochstuhls auf die Sitzfläche, über den Fußtritt auf den Boden. Lio zappelte mit den Füßen und leckte den leeren Löffel aus. Noch einmal stach sie in den Brei, fuchtelte, löffelte, kippte und schleckte. Schwere Tropfen fielen auf Tellerrand und Schnabeltasse. Auf Tisch, Latz, Rock und Stuhl. Auf die Rutschsocken, die nackten Beine, den Küchenboden. Ich stand derweil am Fenster und ließ das Leben auf mich regnen wie ein Schaf einen Graupelschauer. Aus den Augenwinkeln beobachtete ich Lio, sah dann wieder in das fremde Leben auf der Straße, das geschäftige Schmatzen und Keuchen des Kindes im Rücken. Als es den Teller halb leer gegessen hatte, hob ich es aus dem Tripptrappstuhl und trug es in die Badewanne, wo ich es bis auf die Windel entkleidete und wieder an den Tisch setzte. Schnaufend nahm es die Löffelübungen wieder auf. Von nun an aß Lio nackt. Sie matschte und kleckerte, schaufelte und kippte. Geduldig arbeitete sie sich dreimal täglich durch den Breiberg, nie wurde sie ungehalten, weder mit mir noch mit sich selbst, nie gab sie auf. Sie löffelte und tropfte und schleckte und schmatzte. Und lernte es nicht. Dass der Brei spritzte und herumflog, dass sie bis in die Haarspitzen bekleckert war, störte sie nicht, sie war zufrieden und lachte. Schallend, meckernd, kichernd und keuchend lachte Lio, und steckte mich an, so dass ich den Fehler machte, mit dem Kopf zu wackeln, die Augen zu rollen, den Mund zu falten und das Gesicht zu knautschen wie einen alten Lederhandschuh. Lio gickerte, bis sie sich verschluckte, dunkel anlief und in einem Hustenanfall den Brei wieder erbrach. Nach jedem Essversuch hob ich das Kind aus dem Stuhl und wusch den kleinen Körper mit Seifenschaum. Lio liebte das Wasser und ich liebte mein Kind – jedenfalls wusch ich lieber das Kind als die Kleider. Danach putzte ich Stuhl, Tisch, Fußboden und spülte das Geschirr, ich ließ Lio essen lernen, badete sie, wischte auf und sank, nachdem ich sie ins Bett gebracht hatte, mit müden Knochen und leerem Kopf auf den Schreibtischstuhl, wo ich über meinen Zeichnungen einschlief. Eiskrem, Apfelstrudel, Schlagrahm. Lio löffelt heute fast ohne zu kleckern. Sie handhabt Gabel und Messer und braucht seit ihrem fünfzehnten Geburtstag keinen Latz mehr. Der Wirt hinter dem Tresen zapft das dritte Bier, ich kann nicht erkennen, für wen, wir beide sind die einzigen Gäste in dem Landgasthof mit viel zu vielen verstaubten Zimmerpflanzen auf den Fenstersimsen. Ich trinke meinen Wein aus und stelle mir das Leben ohne Lio vor. Wie es sein würde ohne sie. Wie ich künftig heimkommen, fortgehen, verreisen und unterwegs sein würde, ohne einen Gedanken daran, ob ich es rechtzeitig nach Hause schaffen würde oder ob das Mädchen wieder einmal, weil der Zug Verspätung hatte, weil ich im Stau stand, weil ein Meeting länger gedauert hatte als geplant oder ich Überstunden hatte machen müssen, auf den Treppenstufen vor der Wohnungstür saß, der runde Körper ein einziger Vorwurf. Ober ob ich sie womöglich nicht vorfinden würde, herumtelefonieren müsste, die Polizei alarmieren würde, bis eine wohlmeinende Nachbarin sie mit viel sagendem Blick nach Hause brachte, sie habe sie im Treppenhaus gefunden und, weiß der Himmel, was dem Kind hier hätte zustoßen können, weiß der Himmel, denke ich, was ihm in der fremden Wohnung zugestoßen war. Fanatisch wachte ich über Lios Umgang, verkündete meine Wachsamkeit in Schulen und Horten, in Ferienlagern und Entlastungsheimen, verfolgte obsessiv die Zeitungsmeldungen, wähnte mich sicher durch all die Kontrollen und Überwachungsmechanismen, die ich in unserem Leben installiert hatte, dennoch ist es passiert. Hier sitzen wir zu dritt, Lio, das Seepferdchen und ich. Meine Tochter hat ein Liebesleben und ich kann nur hoffen, dass sie Spaß daran hat, dass sie es gewollt hat. Herauszubringen war nichts aus ihr, es ist auch nicht mehr wichtig. Nur noch das: wie ich frei und ungebundenen Schritts durch die Straßen schlendern würde, da einkehren, dort stehenbleiben, flanieren ohne Ziel und Zeit. Wie ich halsbrecherisch mit dem Rennrad über Bürgersteige, Tramgeleise und rote Ampeln schießen würde, Passanten erschrecken und Tauben aufscheuchen, als sei ich noch ein junger Mann. Schnell sein. Das vor allem. Flink. Rennen, rasen und mich dem Strom der Passanten überlassen, mich von ihm wegschwemmen lassen in den erstbesten Bus, eine beliebige Kneipe, einen bereitstehenden Zug. Wie ich schnell und unbeachtet durch die Menge gehen würde und keiner mich bemerken würde, keiner würde schauen, keiner würde sich aufgehalten fühlen. Behindert. Der Wirt fixiert uns, wendet seine Augen nicht von Lio, lässt den Zapfhahn los, stellt das Glas ab und meint mit einem Nicken in Lios Richtung. „So sind die Eltern heute. Erst wollen sie kein Kind, dann überlegen sie es sich anders und dann so was.“ Lio sieht von ihrem Apfelstrudel auf und lächelt. Ich hebe mein Glas zum Zeichen, dass er mir noch eines bringen soll. „Obwohl“, fährt er fort, „die ist ja ganz nett, nicht ohne Charme, wenn man so will.“ „Wenn man wie will“, frage ich. „Ich mein ja bloß.“ Er zapft weiter. „So was wär doch heutzutage nicht mehr nötig. Das kann man doch im Blut feststellen. Ein Stich und man weiß es, bevor man sich so was aufhalst.“ Ich muss rauchen, krame nach meinen Zigaretten. „Das müssts doch nicht mehr geben heute. So was,“ sagt er noch und stellt das Glas vor mir ab. Eiswirbel, Schneestrudel, weißes Flimmern. Die Hunde vor sich herpeitschen, sie hängen sich ins Geschirr, fliegen mit flackernden Zungen. Die Peitsche huscht über die Fellrücken, die hellblauen Augen rasen, und als sie lacht, die Königin, springen Spiegelscherben, schießen durch das Weiß, das Grau ,und hacken sich in Augen, Zungen, Herzen. Mein Glas hat einen Sprung, und im Augenweiß des Wirts mäandern rote Linien. Ich starre auf das Weinglas, das zerspringt, die Scherben fliegen und gelbes Nass versickert in den groben Kunstfasern des Tischtuchs. „Komm, lass uns gehen“, sage ich, doch Lio winkt dem Wirt, und als sich dieser tief zu ihr hinabbeugt, packt sie seine Nase, rüttelt sie, bis ihm die Augen tropfen, und sagt zu dem schwankenden Schädel: „Mach dir keine Sorgen, du bist nicht blöd, bei uns ist keiner blöd, das kann doch jedem mal passieren.“ Der Mann stöhnt leise, ich löse Lios Finger und ziehe das Portemonnaie aus der Hose. „Wir gehen, zahlen bitte.“ Doch sie bestellt ein Piramisu. „Gibts nicht.“ „Dann Käsekuchen, Eiskrem, Schlagrahm.“ Der Wirt reibt sich die Nase. Er bringt die Scherben weg und legt ein frisches Tischtuch auf. Ich stecke mir eine Zigarette in den Mund und gehe vor die Tür. Durchs Fenster beobachte ich meine Tochter, verwünsche und bewundre sie, wie sie zufrieden dahockt mit dem runden Rücken und wartet, bis der Wirt sie bedient. Mein Herz so leicht, schlägt ruhig, und wieder sehe ich mich ohne sie, und Zuversicht steigt auf wie Nebel aus den Wäldern. Ich schlendre über den Parkplatz, wir haben die Grenze passiert. Wachtürme, Schießstände, Beobachtungskanzeln, Panzersperren. Die ganze Gegend, ein einziges Besichtigungsfeld und vor dem kleinen Haus, in dem die deutsche Teilung und dieser Unort namens Little Berlin dokumentiert sind, sitzt der Kartenabreißer auf einem Plastikstuhl und genießt die letzten Sonnenstrahlen. Auf dem Rückweg zünde ich noch eine Zigarette an, Lio hinter dem Fenster, löffelt ihr Eis. Ungerührt und mit großer Konzentration führt das Mädchen den Löffel in den hochstieligen Eisbecher, schiebt die schmierige Kugel an den Rand, kippelt mit dem Löffel, bis das schneeballgroße Eis in die Mulde rutscht, führt ihn an den Mund und saugt die zerfließende Masse ein. Sie schlürft und schmatzt und leckt sich die Lippen ab. Zum Löffel ist die Gabel gekommen, spitzzinkiges Küchenwesen, kapriziöses Silberfräulein. Lio hat stechen gelernt. Sie stach die Brocken, stocherte nach rutschigen Nudeln, saucenglibschigen Kartoffeln, widerspenstigen Salatblättern, buttrigen Möhren, quecksilbrigen Erbsen. Das Essen fuhr auf dem Teller herum, hüpfte über den Rand und huschte über den Tisch, als suchte es Unterschlupf. Lio steckte die Zinken in Weiches und Festes, in Rundliches und Rutschiges. Sie spießte ein Stück auf, öffnete den Mund und stocherte ihre Beute in sich hinein. Sie stach auch mit dem Löffel, rutschte ab und rammte ihr Glas. Es taumelte und kippte. Rasch verbreitete sich der Sirup auf der Tischplatte, lief unter den Teller, eilte der Tischkante zu und stürzte sich verhalten plätschernd hinab. Ein farbiger Zuckerwasserfall, klebriges Orangenpassionsfruchtgetröpfel, grüne Menthe à l‘Eau. Lio beobachtete regungslos, den Löffel in der erhobenen Hand das eilig fliehende Getränk. „Das kann jedem passieren“, sagte sie und wischte mit der Serviette in der farbigen Flüssigkeit herum. Kaum einmal ging es ohne Eimer, Putzlappen und viel Reinigungsmittel ab. Lio stand ergeben da, während ich unter dem Tisch herumkroch und die Zuckerlachen aufwischte. Danach aßen wir still und in Gedanken unsere erkalteten Teller leer. Schnell trinke ich noch ein Glas Weißwein und jetzt stellt sich das wattige Gefühl hinter den Augen ein. Lio flirtet. Der Wirt schäkert mit ihr, fragt, ob sie noch was will, sie lacht und plinkert mit den Augen, bestellt den nächsten Apfelstrudel, lacht wie eine Geiß. Ich kanns nicht fassen, bestelle den Apfelstrudel ab und rufe: „Zahlen!“ Lio schleckt den Löffel ab. „Achkonnypapa“, jammert sie, „ich will noch bleiben, will nicht weg.“ „Iss auf, wir gehen.“ Es fällt mir schwer mich zu beherrschen, doch Lio löffelt gehorsam die weißliche Eiskremsuppe. Nichts bereden, nichts erklären, einfach weg. Rotglühende, ungezügelte Wut. Wie kann sie nur. Es ist schon richtig so. Es geht nicht mehr. Nicht mehr so weiter. Ich werfe das Geld auf den Tisch, packe Lio am Arm. „Sieh mich an. Sieh mir in die Augen.“ Unwillig schaut sie auf. „Ich fahre jetzt. Mit dem roten Auto. Ans Meer. Sehen, wie der Schnee fällt, wie es schneit.“ Da nickt sie, legt den Löffel weg, steht auf. Dämmerlicht eines frühen Novemberabends. Flocken taumeln. Lio streckt ihnen, um sie aufzufangen die Hände entgegen. Flächige Schneeflockennester, die auf Lios Handteller und der weit vorgestreckten Zunge zerfließen. Geräuschlos wendet die Schneekönigin den Schlitten, rast dem Nordpol zu, verschwindet vor uns in der Nacht. Unsere Wege trennen sich. Eine rote Kette aus Glutpunkten der Fahrzeuge vor uns, das weiße Lichterperlenband der entgegenkommenden Autos. Die weiche Nacht nistet in den dürren Wipfeln der Birken längs der Autobahn. Hinter mir singt das Mädchen eine erfundene Melodie, wortlose Tonfolgen, ein Singsang ohne Anfang, ohne Ende. Kleine anstrengungslose Variationen des immergleichen unstrukturierten Lieds lullen mich ein. Ohne jeden Anflug von Angst kann ich es mir vorstellen. Leben ohne Lio. Die Zeit ohne das Mädchen. Mich ohne das Kind. Endlich wieder. Vor mir leuchtet die Instrumententafel grün und rot, mein Cockpit, umgeben von einer dünnen Haut aus Glas und Blech, ein Kokon, in dem ich mir jeder Einzelheit bewusst bin. Tachometer, Thermometer, Benzinanzeige, Drehzahlmesser – ich fliege über die Eiswüste der Zukunft und nehme die Instrumente wahr: jeden Schalter, jede Rundung, jede Kante. Ich studiere die Schweißnähte an den Röhren, gefrorene Stahlwellen, durch die unsichtbar zentnerschwere Belastungen vibrieren, ein Tupfen Leuchtfarbe auf dem Höhenmesser, die Batterie der Brennstoffventile; Dinge, über die ich noch nie nachgedacht habe, sind nun deutlich sichtbar und wichtig. Ich rase durch den Raum, aber in meiner Kabine umgeben mich Gedanken frei von Zeit. Die roten Lichter ziehen sich in eine Senke hinab, steigen wieder auf und reißen plötzlich ab vor dem schwarzen Nichts. Das ist der Punkt, an dem ich den Boden verlassen werde. Ein Wummern in den Ohren, ein dumpfes Klopfen auf dem Trommelfell. Eisige Luft fließt ins Innere der Kabine. Lio hat das Fenster geöffnet, lehnt die Schläfe ans Glas, der Fahrwind kühlt ihr Schädeldach, zerrt ihr Haar hinaus in die einfallende Nacht. Eine lange sandfarbene Strähne Zuversicht. Auszug aus: Atmen, bis die Flut kommt, Roman. München 2013 |
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