BEATE ROTHMAIER
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  NEUES


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Foto © Beate Rothmaier

​WER SPRICHT


​Literatur kann nur entstehen durch den waghalsigen Sturz ins Andere​
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Ob auf der Theaterbühne, in der Übersetzung oder im literarischen Text, die mimetische Anverwandlung einer anderen als der eigenen Lebensrealität ist in Verruf geraten.
Vater, Mutter, Kind. Kinder spielen und sind gleichzeitig die Personen, die sie vorgeben zu sein, sie fantasieren Lebenswirklichkeit und üben Rollen ein. Zwischen den Polen dieses Kinderspiels und dem erzählerischen Sprechen über Menschengruppen, denen man nicht angehört (beispielsweise Menschen mit Behinderungen oder People of Colour), spannt sich ein Raum der imaginierten Anverwandlung, den zu betreten einem derzeit nur auf Zehenspitzen gestattet ist, besser wäre der freiwillige Verzicht.
Kann eine niederländische Lyrikerin mit weißer Haut, das  Spoken-Word-Gedicht von Amanda Gorman übersetzen, das diese zur Inauguration Joe Bidens ins Amt des US-Präsidenten im Januar 2021 vorgetragen hat? Das Team um Amanda Gorman meint: durchaus. Eine Kritikerin und Person of Colour meint: keinesfalls. Streit entbrennt. Die Lyrikerin gibt den Übersetzungsauftrag zurück. Ein exemplarischer Fall für die Durchsetzung von Partikularinteressen, wie sie derzeit im Sinne der Identitätspolitik oft geschehen, und die viele Menschen, auch mich, die ich eine Schriftstellerin bin, zutiefst irritieren.
In meinem neuen Roman kommt ein junger Mann mit indonesischen Wurzeln vor, der in Deutschland adoptiert wurde und aufgewachsen ist. Ich habe ihn mir vorgestellt. Die Grundoperation der Mimesis, Basis des literarischen Schreibens. Ohne sie gäbe es kein Märchen, keinen Mythos, keine einzige Geschichte.
Ich stelle mir vor, wie der junge Mann sich fühlt, was er denkt, was für ein Mensch er ist. Er gehört mir, ich habe ihn mir ausgedacht. Er gehört allen, denn ich schicke ihn zwischen zwei Buchdeckeln hinaus in die Welt. Ich habe mir einen imaginiert, der dreißig Jahre jünger ist als ich, aus einem anderen Teil der Welt kommt und Rassismuserfahrungen gemacht hat, von denen er im Roman auch spricht, ich hab ihm die Worte in den Mund gelegt.
'Darf man das?' Seltsam, aber ich habe mir nie diese Frage gestellt. Ich stelle mir einen Jungen vor, das uneheliche Kind einer Wäscherin, geboren Ende des 18. Jahrhunderts, der sich mit vierzehn das Leben nimmt. In einer anderen Geschichte kommt eine brabbelnde alte Frau vor, die sich mit ihrer Demenz und ihrem Einkaufstrolley auf den Weg in den Supermarkt macht, um Katzenfutter zu kaufen. Ein Bildhauer sieht nur seine Kunst und nicht seine halbwüchsige Tochter, die verzweifelt seine Nähe sucht. Eine junge Frau mit geistiger Behinderung ist schwanger und will ihr Kind um jeden Preis behalten. So viele Leben.
​So viele Realitäten, die unerzählt blieben, würde ich nur aus meinem weißen weiblichen Mittelschichtsleben erzählen dürfen. Wenn wir gut sind, wenn wir es ernst meinen und wenn wir bereit sind, von uns selbst abzusehen, uns hinter dem zurückzulassen, was wir schreiben, können wir alles sein. Ein Affe, der vor einer 
Akademie einen Vortrag hält; eine Hexe, die nicht versteht, dass sie böse sein muss, um gut zu sein, ein Baum, der spricht, ein Frosch, der an die Wand fliegt und als Prinz weiterlebt. Wir können aus der Perspektive von Pistolen verdorrten Christbäumen oder fliegenden Untertassen erzählen, wenn wir es wollen. Wir müssen einfach gut sein in dem, was wir tun, und mit Worten schaffen, dass die Leserinnen und Leser selbst zu fliegenden Untertassen werden.
Die Schauspielerin Sandra Hüller kann auf begeisternde Weise Shakespeares Dänenprinz Hamlet sein. Eine deutsche Theaterregisseurin (weißhäutig), kann das Stück eines iranischen Autors glaubhaft inszenieren, eine Schwarze Frau kann einen chinesischen Mann spielen und eine Schriftstellerin wie Virginia Woolf kann durch die Jahrhunderte aus der Perspektive eines Mannes, der eine Frau wird, erzählen: Orlando, einer ihrer größten Erfolge.
Jeder kann und darf über alles sprechen. Klug muss es halt sein, einfühlsam, gut recherchiert, belesen. Ich kann nicht wissen, wie der Sechsjährige im 18. Jahrhundert sich in seiner nassen Hose gefühlt hat, wenn ich nie einen solchen Stoff angefasst habe. Ich kann schon wissen, wie er sich fühlt, wenn er allein in einer Höhle sitzt und in den Regen hinausschaut, es gehört zu meinen Erfahrungen. Einfühlung, Fantasie und eine große Bereitschaft, von der eigenen Befindlichkeit abzusehen, sind die Voraussetzungen, ein anderer zu werden. Je mehr ich mich verschwinden mache, umso genauer kann ich werden, was Rimbaud 'Ich ist ein anderer' nannte und womit er seinen Wunsch nach Entgrenzung unterstrich. Jene Entfremdungserfahrung, die die mimetischen Kräfte erst aktiviert und stimuliert. Jener Selbstverlust, der Kunst erst möglich macht.
Sprechverbote und Imaginationsverbote jedoch richten jene Grenzen wieder auf, die im schöpferischen Akt niedergerissen werden mussten, um überhaupt zu einem künstlerischen Ausdruck zu gelangen.
Das Irritierendste für eine Schriftstellerin an der Identitätspolitik ist die Forderung nach Auflösung der Geschlechteridentität bei gleichzeitiger verschärfter Sanktionierung der imaginativen Aneignung anderer Lebenswirklichkeiten im Erzählen. So könnte ich imaginieren, ich wäre im falschen Körper geboren und eigentlich ein Mann. Das wär okay. Will ich in eine Erzählung darüber schreiben, ist es das nicht. Aus solcherlei Double-Binds finde ich nicht mehr hinaus.

Zum Thema der Spannung zwischen identitätspolitischer Sprechkritik und imaginativer Arbeit.
​7. Juli 2021 

DIE GENMUTATION IST NICHT DAS PROBLEM

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Foto © Beate Rothmaier
Pränataldiagnostik und die Furcht vor dem behinderten Kind​

Ein trüber Februartag 1998. Ich stand am Wohnzimmerfenster und sah auf die Straße hinunter. Da liefen Büromenschen entlang. Stöckelschuhe, blanke Halbschuhe, teure Tuchmäntel. Geschäftiges Innenstadtleben, Börsenviertel. Warum muss das gerade mir passieren, dachte ich, und in selbstmitleidiger Verkennung der Menschen da unten von denen jeder sein Schicksal hat, seinen Rucksack trägt:  es gibt so viele blöde, gemeine Leute auf der Welt. Warum also ich und nicht irgendeine, die da unten mit hochgesprühter Steckfrisur in die Mittagspause eilt?  

Der Befund des Instituts für Medizinische Genetik der Uni Zürich war gekommen und attestierte meiner fünf Wochen alten Tochter etwas, das nach seinen Entdeckern Rubinstein-Taybi-Syndrom heißt und neben organischen und motorischen Defiziten vor allem eine „mentale Retardierung“, „Entwicklungsverzögerung“, „kognitive Beeinträchtigung“ mit sich bringt. Das Wording änderte  sich in den letzten zwei Jahrzehnten je nach Kontext, Fachsprachlichkeit und Zeitgeist. „Geistige Behinderung“ sagte man damals noch. „Intellektuelle Herausforderung“, heißt es jetzt im anglo-amerikanischen Sprachraum. „Lernbehinderung“ im deutschen. Whatever. Als Schreiberin hab ich’s bei mir mit Hölderlin die Blödigkeit genannt, eine Unfähigkeit, das Dasein in dieser Welt, so wie sie sich uns darbietet, zu bestehen. Es geht nicht um Dummheit. Ich kenne wenige, die so klug sind, wie meine Tochter, die heute mit 23 nicht viel mehr als ihren Namen und den ihrer Lieblingsschauspielerinnen liest, die, den Warenwert der Dinge und der Geldmünzen nicht kennt, und ihre Schnürsenkel nicht binden kann. So what. Es gibt Klettverschlüsse.

Das Rubinstein-Taybi-Syndrom tritt spontan auf und betrifft 1 von  ca. 125’000 Neugeborenen. Es manifestiert sich auf dem 6. und dem 22. Chromosom — höchstwahrscheinlich, viel Forschung wird dazu nicht gemacht — und bedeutet erstmal, dass das Kind sich langsamer entwickelt als seine Geschwister und die Gleichaltrigen. Es kann, anders als die Trisomien und die Geschlechtschromosomenveränderungen, vorgeburtlich nicht nachgewiesen werden.

Während der letzten zwanzig Jahre hat mich mein Mädchen radikal infrage gestellt, nicht nur meine Autorität, wie es alle Kinder tun,  sondern vor allem meine Vorstellung davon, worauf es ankommt im Leben: denken, sprechen, lesen, analysieren, verstehen.  Ehrgeiz, Leistung, Erfolg, Autonomie, den ganzen Tugendkatalog der aufgeklärten Spätmoderne. Diese ganzen lautstarken und unausgesprochenen Optimierungs- und Perfektionierungsversprechen. 

Was, wenn es sie nicht gegeben hätte? Nicht so?
Ich hätte viele und damit meine ich hunderte Stunden meines Lebens mit Erfüllenderem zugebracht, als damit, Anträge zu stellen, Formulare auszufüllen, zu recherchieren, welche Rechte wir haben, was uns an Unterstützungs-leistungen zusteht, dafür rechtlichen Rat einzuholen, Begründungen zu formulieren und ärztliche Gutachten einzufordern, mit Invalidenversicherung, Kranken– und Pflegekasse zu rechten, Ansprüche geltend zu machen — um wieder und wieder und dann noch einmal zu belegen, dass das Kind eine angeborene Behinderung hat. Und dass diese nicht weg gehen wird. Auch in fünzig Jahren nicht. Eltern eines behinderten Kindes steht Kindergeld auch über das 18. Lebensjahr des Kindes hinaus zu. In den letzten fünf Jahren habe ich viermal einen neuen Kindergeldantrag gestellt, damit unser Anspruch wieder und wieder neu anerkannt wurde. Warum? Ich weiß es nicht, ich weiß nur, dass das mühsam  beantragte Kindergeld, ebenso wie das  BaföG,  von einem anderen Amt  wieder eingefordert werden kann, um die Kosten für ihren Lebensunterhalt zu kompensieren. Linke Tasche, rechte Tasche. 

Der Lebensunterhalt meiner Tochter wird auf der Basis vieler gesetzlicher Grundlagen finanziert: Pädagogische Begleitung §§ 53, 54 SGB XII, Lohn- und Ausbildungsgeld von der Arbeitsagentur § 112ff SGB III, Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung § 41ff. SGB XII, Grundsicherung für Arbeitssuchende und aufstockende Hilfen nach dem SGB II, Kindergeld § 3 Abs 2, 3. NBKGG, § 20 Abs 4 BKGG, Wohngeld § 3 ff WoGG, Organisation der häuslichen Pflege § 36 ff SGB XI, Verhinderungspflege § 39 SGB XI, Hilfe zur Pflege § 61 ff SGB XII, zusätzliche Betreuungsangebote und haushaltsnahe Tätigkeiten § 45 SGB XI, Wohngruppenzuschlag § 38a SGB XI, Wohnfeldverbessernde Maßnahmen § 40 SGB XI, Anschubfinanzierung für ambulant betreute Wohngruppen § 45e SGB XI. Und jede dieser Unterstützungsleistungen muss einzeln beantragt und ihr Anspruch belegt werden. 

Warum wollen Eltern kein Kind mit Behinderung bekommen? Sicher hat es mit einem Normengerüst zu tun, in das jeder gern reinpassen möchte. Eine geistige Behinderung ist ja kein zeitgemäßes Distinktionsmerkmal mit sozialem Mehrwert. Blödigkeit hat keine Konjunktur. Hatte nie eine. Behinderungen, zumal wenn sie wie bei einer cerebralen Lähmung ein scheinbar unkontrolliertes Ausdrucksverhalten mit sich bringen, beschert keine öffentliche Aufmerksamkeit, es sei denn Irritationen und abwehrende Ängstlichkeit bei Leuten, die ungeübt sind im Umgang mit Behinderten und das sind — Inklusion hin oder her —  die meisten. Behinderung katapultiert dich raus aus einer Gesellschaft, die sich als normal empfindet. Behinderung zieht nach sich: ein erhebliches Armutsrisiko und vor allem eine lebenslange Zuordnung zur Kategorie der Bittsteller. Für den Rest deines Lebens wirst du fremde Menschen davon überzeugen müssen, dass ihr Nachteile habt und dass euch aufgrund dieser Nachteile Unterstützung zusteht. Für den Rest deines Lebens wirst du als Mensch mit Behinderung von Grundsicherung leben,  hartzen. Du wirst in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung 115 Euro monatlich verdienen, du hast keinen Anspruch auf den Mindestlohn und keine Arbeitnehmerrechte, da du nicht in einem Angestelltenverhältnis bist, sondern nur als Beschäftigte giltst. Du darfst nicht mehr als 5000 Euro Vermögen besitzen, solltest du erben, musst du das Erbe bis auf dieses so genannte Schonvermögen abgeben. Meine Tochter hat das Rubinstein-Taybi-Syndrom. Das heißt, sie ist kerngesund. Sie geht wählen und ist flinker mit ihrem iPad als ihr Großvater. Doch sie hat eine Chromosomen-veränderung und ist durch sie an den Rand der Gesellschaft verwiesen. 

Diese Ungerechtigkeiten werden wenig thematisiert, wenn es um die Frage geht, warum Eltern kein behindertes Kind wollen. Denn sie bringen Arbeit mit sich. Arbeit, die nicht entgolten wird und mit der man sehr allein ist. Nachteile werden zwar gesetzlich geregelt ausgeglichen, jedoch nur nach nie endenden Auseinandersetzungen mit Behördenvertretern, die sich für berechtigt halten, den Fakt der Behinderung immer und immer wieder zu bezweifeln.

Das Bettelnmüssen ist das Problem. Das Ringen um Anerkennung einer Tatsache, für die du nichts kannst. Das wird sich mit dem NIPT-Test, der eine Trisomie 21 im Blut der Mutter bereits vor der Geburt sehr leicht nachweist, ändern. So was muss es doch heut nicht mehr geben? Doch. 
Denn das Leben mit einem behinderten Kind macht dich zu dem Menschen, der du bist. Es führt dich an deine Grenzen, dort holt es das Beste und das Schlechteste aus dir raus. Es ist die ultimative Challenge. Du brauchst keinen Marathon laufen, keinen Achttausender besteigen und dir kein Tiktokprofil mit tausenden Followern ertanzen. Du wirst jeden Tag herausgefordert. Und du wirst bedingungslos geliebt. Einfach nur dafür, dass es dich gibt und dass du bist, wie du bist. Diese Gesellschaft braucht Behinderte. Alle Arten von Behinderten: körperlich, geistig, psychisch Behinderte. Und Mehrfachbehinderte. Die vor allem. 

Lasst sie auf die Welt kommen. Lasst sie leben. Gebt ihnen eine Rente,  einen Mindestlohn, besser noch ein bedingungsloses Grundeinkommen. Gebt ihnen einen Ort, an dem sie selbstbestimmt leben können. Sie haben es verdient.
Denn sie meistern so viele Härten beim Zusammenprall mit dieser Leistungsgesellschaft, dass sie nicht nur eine existenzsichernde Grundversorgung verdient haben, sondern darüberhinaus jede Menge Schmerzensgeld.

Erfahrungsbericht zum Artikel "Ich bin ja da" über den vorgeburtlichen NIPT Test und seine Folgen für Menschen mit Down-Syndrom von Alex Rühle, Süddeutsche Zeitung 2./3. Juni 2021

DIE WIEDERANEIG​NUNG DER ZEIT

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Foto © Beate Rothmaier
Lilly-Ronchetti-Preis 2019 des A*dS 
Autorinnen und Autoren der Schweiz.

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Aus der Laudatio von Barbara Villiger Heilig:

"Ein paar Worte noch zum Projekt, das wir heute mit dem Preis auszeichnen. Den Titel erwähnte ich schon: «Die Wiederaneignung der Zeit». Dem Exposé ist ein Zitat der US‐
amerikanischen Schauspielerin und Autorin Amy Poehler vorangestellt: «It takes years as a woman to unlearn what you have been taught to be sorry for» (auf Deutsch und leider etwas weniger elegant: es braucht Jahre, bis eine Frau jenen Lernprozess rückgängig gemacht hat, bei dem ihr beigebracht wurde, wofür sie sich alles entschuldigen muss).
Um einen solchen Rückwärtsprozess geht es Beate Rothmaier in ihrem neuen Projekt, das sie als «essayistische Erzählung» charakterisiert. Diese Erzählung soll davon handeln – ich zitiere ‐, «was passieren würde, wenn die unbezahlte Frauenarbeit entlohnt würde, wenn sie nicht nur einen gesellschaftlichen, sondern einen volkswirtschaftlichen Wert hätte und was das mit den Menschen machen würde.» Ohne weiteren Kontext klingt das eindeutig nach Tendenzliteratur. Nach feministischem Agit‐Prop‐Programm.
Jedoch: Beate Rothmaier ist eine Schriftstellerin. Erlauben Sie mir deshalb ein weiteres Zitat, das eine Ahnung davon vermittelt, wie diese Schriftstellerin ihr trockenes Abstract in eine literarische Suada verwandelt: «Plötzlich, das kann Jahre gedauert haben, in denen du dahingelebt hast in einem mittleren Leben und dich eingerichtet hast in einer Gesellschaft, die dir früh beigebracht hat, dass deine Arbeit viel Wert ist, jedoch nicht in Geldstücken, plötzlich also, vielleicht nach der Lektüre von Beauvoir, Arendt, de Gouges, von Roten, Woolf wird dir bewusst, dass du sehr, sehr müde bist von der Arbeit, die du unentwegt bis zu 17 Stunden täglich verrichtest und die dich auf keinen grünen Zweig bringt, weil sie keine Arbeit ist, sondern so eine Art Dahinleben mit Kindern, zu pflegenden Eltern, in irgendeinem Kirchenamt wo immer. Plötzlich beginnst du zu rechnen, wie viel du verdient hättest, wenn all deine Arbeitsstunden entgolten worden wären. Du zählst die zermusten Bananen, die für Hortkrippenkindergartenschulanlässe gebackenen Kuchen, die auf winzigen Stühlen sitzend geschnitzten Räbeliechtli, die Kindergeburtstage, Weihnachtsgeschenke, organisierten Ferienreisen, Behördengänge, Elterngespräche – die tausend Stunden, die du damit verbracht hast, kleine Lebewesen in die Welt hinauszurichten, und du versuchst die Kraft zu messen, die in ihnen weiterlebt und dir jetzt fehlt in deiner Erschöpfung.»
Meine Damen und Herren: Nein, das ist keine aktivistische Propagandaprosa. Sondern: eine Recherche du temps perdu au féminin. Sie blickt zurück und weist nach vorn in eine – vielleicht, hoffentlich – gendergerechtere Zukunft. Und aus dem zitierten Passus wird bereits klar: Hier artikuliert eine, die weiss, wovon sie spricht, das, was sie weiss in einer unverkennbar persönlichen Sprache, aus der nebst weiblichem Aufbegehren eine zärtliche Zuneigung zum Leben spricht.
Noch einmal: herzliche Gratulation, Beate Rothmaier. Und Ihnen allen danke für die Aufmerksamkeit.
St. Gallen, 11. Dezember 2019

WECHSEL DICH

Wechsel Dich, Illu © Dieter Kubli
Illustration © Dieter Kubli

Kaisser setzte sich auf den Schlitten, wartete, dass sie hinter ihm Platz nahm. Seine Felljacke roch ein wenig nach nassem Hund. Er hatte sich den Schal ums Gesicht gewickelt, war startbereit. Sie rutschte ein wenig zurück, damit sie ihn nicht versehentlich berührte, stützte sich hinten auf den Holmen ab, stellte die Füsse auf die Kufen. Wie ein Insekt warf er seine langen Beine nach vorn, grub die Fersen in den Schnee, zog den Schlitten vorwärts, warf die Beine nach vorn und langsam bekamen sie Schuss. Im Wald war es fast dunkel. Maria schloss die Augen. Sie spürte, wie Kaisser seine Hacken in den Schnee grub, wie der Schlitten, und sie mit ihm, gehorchte, sich nach rechts oder links in die Kurven wendete. Sie spürte Schnee, der ihr ins Gesicht spritzte, sie warf den Kopf in den Nacken, sah das Gewirr der schwarzglänzenden Unterseiten der Äste über sich davonsausen, grauer Himmel dazwischen und aus ihm Schneerieseln ohne Unterlass. Sie spürte, wie das Gefährt sich nach vorn neigte,wie die Strecke steiler wurde, spürte, wie es begann, sich zu drehen, hörte Kaissers Fersen nicht mehr durch den Schnee knirschen, spürte die Beschleunigung, wusste, dass sie jetzt über ein Eisfeld rasten, spürte, wie der Schlitten sich weiterdrehte, schneller wurde, wusste, dass er kippen würde, hörte Kaisser schreien, halt dich fest und Scheisse, spürte ihre Arme, die sich nun an ihn klammerten, ihre Füsse, die sich in das Eis stemmen wollten, um den Schlitten zu bremsen, spürte die Wucht, mit der sie weggerissen und nach hinten verdreht wurden. Der Schlitten rutschte rückwärts, prallte gegen eine Bretterwand, drehte seitlich ab, kippte endlich. Erleichtert wissen, es wird gleich vorbei sein, Schnee fressen, einen Abhang hinunter rollen, gegen einen Stamm prallen. Stille, Kälte, Schneerieseln auf ihr Gesicht. Liegen und warm haben. Warm und weich. Die Füsse spürt sie nicht mehr. Allein sein, wie schön. Zärtlich und kühl der Schnee auf ihrem Gesicht. Ab und zu schüttelt ein Ast rauschend seine Last ab, manch einer knackt unter seiner Bürde, dann herrscht wieder vollkommene Stille und zum ersten Mal hört sie das engelsgleiche Flüstern des fallenden Schnees, hört sie die kleinen Jubelschreie, mit denen die ankommenden Flocken begrüsst werden. Maria lacht. (..)

Die ganze Geschichte und viele Wintertexte anderer Autor*innen in:
Anne- Catherine Eigner (Hg.): RAUHNÄCHTE, Zürich: edition sacré, 2019.

ALLES WISSEN

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Foto © Beate Rothmaier
Mörike stellte die Kamera auf. Zuerst das Stativ, Schrauben aufdrehen, Beine rausziehen, Schrauben zudrehen, drei Mal das Ganze, Kamera aufstecken, festschrauben, justieren. Er kniff das eine seiner sehr blauen Augen zu und sah mit dem anderen, es war das linke, was ihn als linkshändigen Menschen auswies, durch den Sucher, das Fadenkreuz, ja es war ein Zielfernrohr, er zoomte und was er da sah, war er selbst, wie er da stand, verlegen, die Hände in den Taschen der ausgebeulten Cordhosen, Standbein, Spielbein und darauf wartete, fotografiert zu werden. Abgeschossen. Mörike hob den Blick und sah sich in die Augen. Blickwechsel, Wildwechsel, dachte er und freute sich auf das Bild, das er von sich machen würde. Das er ja wohl überleben würde, es war nichts Schlimmes dabei, auch wenn er nach jeder Fotografie, die er oder andere von ihm gemacht hatten, den Eindruck hatte, eine Haut verloren zu haben, als sei sie ihm durch das Kameraauge hindurch abgezogen worden wie einem Hasen der Pelz, von hinten über die Ohren, die feingeäderte, weißliche Haut nach außen gestülpt, das weiche Fell nach innen und darunter das rote rote Fleisch. Hasenfuß, dachte Mörike und griff sich in den Schritt, was die bekannte unmittelbar beruhigende Wirkung ausübte und es ihm sogar ermöglichte, zu lächeln, zu lachen gar und das ging so. Die Zähne entblößen, beide Augen zukneifen und zwischen ihnen eine Falte in Form eines Y auf der Nasenwurzel bilden. Aus wars mit dem blauenblauen Rehaugenblick, es zeigte sich das Raubtier in ihm, das fletschende Grinsen, auf das er stolz war. Das ihn ausmachte und, sobald er es seinen Mitmenschen ins Gesicht warf, diese ebenfalls zum Lachen brachte und nur wer ihn sehr gut kannte oder genau beobachtete, sah in der Spiegelung seines Lachens im Ausdruck der anderen diese Andeutung von Verzweiflung bevor sie in Panik zu kippen droht. Das war der Augenblick. Mörike drückte ab und taumelte, vom Rückstoß getroffen nach hinten. Er griff sich an die Schulter, dahin wo die Kugel in ihn hineingefahren war und riss die schönen Augen auf. Das also war dein Plan, rief er und wieder lachte er, doch wenn ihn einer gefragt hätte, warum, so hätte er keine Antwort gewusst.
Mörike lag im bräunlichbeige vertrockneten Gras des vergangenen viel zu langen Sommers und sah ins blaue Halbrund über sich. Noch immer schien die Sonne, man sagte wohl, erbarmungslos herab, oder auch, weil ihr nichts anders übrig blieb, auf das Immergleiche und ihn, Mörike. Mal unter dem Rasensprenger, mal mit, mal ohne Schuhe, mal mit mal ohne seine Schriften und Berechnungen, mal mit der Kamera um den Hals, mal vor sich auf dem Stativ, jetzt liegend im dürren Gras, starr nach oben blickend, jetzt wie die Sonne schwebend über der Halbkugel Welt, die er von hier oben aus beleuchten konnte und mit scharfem Blick das kleinste Lebewesen, eine knopfäugige Haselmaus mit runden Ohren und zärtlich karamellfarbenem Fell, wie sie da trippelte, huschte und sprang, als hätte sie auch nur den Hauch einer Chance gegen seine stechenden Augen, die die Kleine aufspießen wollten aber nicht erwischten, die jetzt still hockte und auf dem falben Untergrund, nicht mehr ausgemacht werden konnte von ihm. Mörike konnte alles. Von seinem in den Kopf der anderen springen und dort zwischen fremden Ideen, Einbildungen, Affekten herumspazieren vom Frontalhirn aus den Balken übersteigen, zwischen den walnussartigen grauweißen Hälften Richtung Amygdala und bis hinab ins limbisches System. Er war ein Schreiber und kannte die Hirn- und Herzkammern seiner Geschöpfe, ihre inneren Monologe, ihre Bewusstseinsströme, ihre erlebten Reden, Gedankenstürme und nicaht nur das. Von einem Kopf sprang er in den nächsten, von dort in ein löchriges Kinderherz, weiter in die Eingeweide eines alten Detektivs, sein Magenknurren, Magenkrampfen und die unbändige Lust auf den Twanner Weißwein, den der Arzt ihm verboten hat, und in die trübsten Seelenregungen einer übriggebliebenen Greisin, die auf osteoporösen Knien in der Kirchenbank der Wallfahrtskirche Zu unserer lieben Frau kniete, die wurzelartigen Finger ineinander gekrallt, die Stirn auf den verschränkten Fäusten in stummer Anrufung aller vierzehn Nothelfer, sie einmal nur in ihrem Leben zu erhören und endlich abzuberufen aus diesem Jammertal, aber nein. Noch schneidet, noch beißt keiner diesen Faden ab. Mörike rumpelte das Gedärm, er hat genug gesehen. Der allwissende Mörike hatte genug gesehen, ihm rumpelte das Gedärm. Auf ungelenken Füßen watschelte er einen Berg hinauf, stolperte, purzelte hinunter, rollte in den Graben, stemmte sich hoch und schaffte es schließlich auf eine Anhöhe und bis an ein Abbruchkante. Er breitete seine Flügel aus. Taumelig warf er sich in die Aufwinde, ließ sich heben, schwang sich auf und hinüber in ein ungeschriebenes Land. Aus der Vogelperspektive sah er das Halbrund der Erdkugel und auf ihrer kaltgespannten Kruste den Weberknecht seines klumpigen Fotoapparats auf spirreligen Stativbeinen schwebend. Das wird eine feines Porträt werden ganz in Schwarzweiß, monologisierte er vor sich hin und ging in den Sinkflug über.

in: Mauerläufer Literarisches Jahresheft 2019/20

HEIMAT HEISST UBUNTU ZUM BEISPIEL

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Foto © Beate Rothmaier
​Ich bin Schriftstellerin und gehe mit Wörtern um. Deutsche Wörter im allgemeinen. Ich klaube sie zusammen um Dinge zu sagen, die eine bestimmte Erfahrung, eine Einsicht vielleicht sogar eine Erkenntnis ausdrücken. Ich reihe sie aneinander, um Geschichten zu erzählen.
Es gibt aber auch einzelne Wörter, die eine ganze Geschichte erzählen. Heimat zum Beispiel. Sündenbock.
Heimat gehört, wie Warmduscher, Wanderlust, Kabelsalat, Waldeinsamkeit zu den unübersetzbaren deutschen Wörtern. Für sie gibt es in anderen Sprachen keine Entsprechung, man muss einen ganzen Satz formulieren um sagen zu können, was man darunter versteht. Oft nicht nur in der fremden, sondern auch in der eigenen Sprache, denn Heimat ist für jeden etwas anderes: Heimat ist das Linoleum im Klassenzimmer, das nach Bohnerwachs riecht,
der Duft der faulenden Früchte auf den Streuobstwiesen im Spätsommer, das krachende Geräusch beim Zerbeißen gebrannter Mandeln aus einer rosa-weiß gestreiften Papiertüte, der Geruch nach Holzfeuer und Schnee kurz vor Wintereinbruch, das Klingeln einer Ladenglocke.
Das milchige Licht eines Herbstmorgens, die losen Spinnwebfäden in der Spätsommersonne, Schnee, der von unten nach oben fliegt, das Gurren der Türkentauben auf dem Hausdach, die zärtliche Kühle des Schlamms zwischen den Zehen, bevor man losschwimmt, zur Insel und zurück, der Tanz der Libellen über der Wasseroberfläche.
Heimat können Wörter sein, Landschaften oder Gerichte, der Geschmack von Pfitzauf mit Vanillesoße. Der Gyrosteller, das erste Spaghetti-Eis, ein Espresso im Stehen. Der Begriff Heimat kam zuerst in Gestalt der Heimatkunde über mich. In der Grundschule mussten wir den Verlauf der Bundesstraßen durch den Landkreis (der damals noch Kreis Aalen hieß) auswendig lernen. B 19, B 29, B 290. Das war in den autoverliebten 70er Jahren nach dem Lehrplan Heimat.
Ich bin in der Welt unterwegs gewesen und zurückgekehrt. Als ich ankam, war die Welt hierher gekommen. Von der Welt habe ich gelernt: die unübersetzbaren Wörter sind die Heimat der anderen.
Heimat heißt Ubuntu zum Beispiel, Korebi, Jayus, Pisan Zapra, Samar, Naz, Hanyauku, Gurfa, Cotisuelto oder Karelu. Andere Sprachen haben Wörter für so wichtige Dinge wie das Sonnenlicht, das durch die Blätter von Bäumen schimmert: Korebi (japanisch), die Zeit, die man braucht, um eine Banane zu essen: Pisan Zapra (malaiisch), das Gefühl von Stolz und Sicherheit, das aus dem Wissen entsteht, bedingungslos geliebt zu werden: Naz (Urdu),der Abdruck, der auf der Haut bleibt, wenn man etwas zu Enges getragen hat: Karelu (aus dem südindischen Tulu), bis nach Sonnenuntergang aufbleiben und mit Freunden eine gute Zeit verbringen: Samar (arabisch), einen Witz, der so schlecht ist, dass man gar nicht anders kann, als zu lachen: Jayus (indonesisch).
Mein liebstes unübersetzbares Wort kommt aus dem afrikanischen Nguni Bantu, es heißt Ubuntu und meint das Prinzip: Ich finde meinen Wert in dir, und du findest deinen Wert in mir. Ubuntu ist ein Begriff der südafrikanischen Philosophie und kann verstanden werden als eine Mischung aus Menschlichkeit und Freundlichkeit, oder: ich bin, was ich bin, weil wir alle sind, was wir sind.
Unübersetzbares ist zuerst unverständlich, dann überraschend, dann bringt es uns zum Staunen: warum haben wir keine Wörter wie Gurfa, ein arabisches Substantiv, das die Menge Wasser bezeichnet, die man in einer Hand halten kann oder Cotisuelto, aus dem karibischen Spanisch, für einen Mann, der sich weigert, sein Hemd in die Hose zu stecken?
Immer bleibt etwas an der Begegnung mit dem Fremden unverständlich, immer bleibt ein unübersetzbarer Rest: auf ihn kommt es an. Das ist das Paradox. Er ist es, der die Welt reich macht. Und wenn wir uns mit ihm, diesem unübersetzbaren Rest, beschäftigen, merken wir, dass er uns gefehlt hat. Denn er erzählt uns die Geschichte dessen, was wir schon kannten, wofür wir aber kein Wort hatten.
Hanyauku zum Beispiel. Für uns eine Urlaubserfahrung, Alltag in Namibia, denn Hanyauku heißt: Auf Zehenspitzen über heißen Sand laufen. Oder eben: Ubuntu. Ich finde meinen Wert in dir und du findest deinen Wert in mir.
Text zum Fest für Menschenrechte und Demokratie
am 22. September 2018 in Ellwangen

 © Beate Rothmaier


DIE UNBEWUSSTEN ALLTÄGLICHKEITEN UND DER BESONDERE AUGENBLICK
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Cover © Christine Hunold
Es ist der Morgen nach einer dieser Nächte. Freunde waren gekommen, und während draußen der Schnee fiel, wurde ein Essen gekocht, Wein getrunken, viel geraucht, und auf einmal, keiner weiß warum oder wann genau es geschah, war nach ein paar Stunden des Zusammenseins die Öffnung der Seelen möglich. Einer fasste sich ein Herz und sprach von sich. Nicht von den Leistungen, den Erfolgen, den Gewinnen. Sondern von Zweifeln, Ring- kämpfen und den Hinterlassenschaften früherer Entscheidungen. Plötzlich, und nicht nur, weil es für einen Augenblick still geworden war, stellte sich, ohne die Unterschiede zu verwischen oder aufheben zu wollen, etwas ein: Einmütigkeit. Ein gemeinsamer Mut, es nochmal aufzunehmen mit dem Leben, ein Schwingen auf gleicher Seelenfrequenz.
Ich schreibe, um die Dinge dem Vergessen zu entreißen. Der Satz von Simone de Beauvoir erzählt davon, was es heißt, im Immergleichen das Besondere zu entdecken. Es festzuhalten, es herauszuschälen, es vom Überflüssigen zu entkleiden, es genießbar zu machen. Doch was hat es mit dem Überflüssigen auf sich, mit dem, was übrig bleibt, das keiner Notiz oder Erinnerung wert scheint? Wohin mit den Resten eines feinen Essens, einer mehr oder weniger aufwendigen Kocherei, gemeinsam, in Erwartung der Gäste, in der Hoffnung auf einen besonderen Abend, der sich dennoch so selten ergibt? Was soll mit dem Abfall geschehen, nun, da er nicht mehr gebraucht wird? Es sind die alltäglichen Verrichtungen, in denen ständig etwas geschieht. Diese zahllosen kleinen Handlungen bilden das Hintergrundrauschen zu den besonderen Augenblicken, in denen etwas lebendig wird und springt, wie Funken, Wassertropfen oder ein kleines Hüpftier, so dass sie sich herausstemmen aus dem Alltäglichen und wir sie nicht mehr vergessen werden.
All diese Bemühungen unseres täglichen Treibens, sie geraten in Vergessenheit, bleiben unter der Bewusstseinsschwelle. 
Die polnische Philosophin Jolanta Brach-Czaina hat die metaphysische Dimension der Alltäglichkeit beschrieben, wonach die Grundlage unserer Existenz die unbewusste Betriebsamkeit ist. Diese nicht wahrzunehmen, sie zu negieren, heißt, uns selbst zu negieren. Unsere Existenz, und zwar in ihrer Gesamtheit, mit diesen besonderen, sich so selten einstellenden, oben beschriebenen Augenblicken, die immer erst aus der langen Reihe endloser, scheinbar immergleicher Handlungen heraus ihre Besonderheit entfalten können: „Man kann sich nicht mit der Rolle des unbewussten Handlangers existenzieller Tätigkeiten abfinden. Auch aus Selbstschutz muss man dem Sinn des Alltäglichen nachjagen wie einem Verbrecher“, sagt die Philosophin.
Was soll geschehen mit den Überbleibseln unserer eigentlichen Vorhaben, die als Spargelschalen, fein wie Engelshaar, als schwarzrot gefleckte Kirschsteine, als Wursthäute, Fischgerippe, ausgepresste Zitronenhälften, Erdbeerstrünke, Korken, Kaffeesatz, ausgewischte Eierschalen und ausgekratzte Vanilleschoten in einer weißen Emailschale mit dunklem Rand landen und in ihr, Tag für Tag, in den Garten getragen und auf den Kompost geworfen werden?
Klar sie werden eines Tages dafür sorgen, dass Neues gedüngt und genährt wird, dass es wächst und gedeihen kann. Doch in der Zwischenzeit? Der Blick in unseren Müll geht ans Eingemachte. Kompost kommt von Kompott. Beiden liegt das compositum, das Zu- sammengesetzte zugrunde und lange Zeit war der Kompost einfach eingelegtes Kraut, eingemachtes Gemüse und Obst, wie Quitten, Schlehen, Birnen, Weinbeeren und er hatte von Komps bis Gumpisch viele Namen.
Christine Hunolds „Kompost Tagebuch“ verrührt in raschem Wirbel die Lebensmittelreste zu einem irisierenden Kompott der Farbringe. Durch den Perspektivwechsel in dieser neuen Arbeit von der Untersicht der „Horizonte“-Serie zur Draufsicht auf das Weggeworfene, das Abjekt, das Abgefallene, den Abfall, unterwirft sie die täglichen Überreste ihrem künstlerischen Interesse und stellt die Frage nach dem, was wir wegwerfen und dem, was daraus noch zu machen wäre.
Im Karussell der Zentrifugalkräfte verwischt die Künstlerin die Essensreste zu einem Kompost, einem compositum, ganz eigener Art. Zweidimensionale, flache Strudel, zart und weit weniger raumgreifend als die vereinzelten Lebensmittel in der danebenliegenden Fotografie. In der Verschleierung durch die Kreisbewegung nimmt die Künstlerin den Kompostierungsprozess vorweg und schafft es auch, das aus ihm neu Erstehende bildhaft zu machen.
Pfirsichsteine, Kürbisschalen, abgezupfte Petersilienstengel, Körner, Blätter, Blüten. Viele der Kompostabfälle sind noch erkennbar als das, was sie einmal waren, als die schlechteren Hälften dessen, was im Topf und auf dem Teller landet. Doch manches ist bereits im Zustand des Zerschnepseltseins nicht mehr identifizierbar, nicht mehr zuordenbar. Das ist unheimlich, aber der erste Schritt hin zur Abstraktion, die schließlich alles Lebendige in zerfließenden Farbkreisen auflöst. Strudelnd überlassen wir uns dem psychedelischen Sog des Kreisens, schnell und schneller, den Blick auf das Zentrum geheftet, das sehr hell oder ganz dunkel, uns dahin lockt, wo wir herkommen und wieder enden werden.
Text  © Beate Rothmaier
Buch erhältlich unter www.christinehunold.com​


​CASPAR DER ROMAN  JETZT AUCH ALS E-BOOK

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Coverfoto © Katharina Stoll
Er hat vom Buchgestalter Guido Widmer, Zürich, ein neues Gewand erhalten und kann für alle mobilen Endgeräte  HIER heruntergeladen oder in den online Bookshops gekauft werden.

​CASPAR. Das eBook, November 2017, €10.99 
Ein Exemplar aus der Erstauflage des Hardcover-Buchs ist unter info@beaterothmaier.net erhältlich
​Auszug aus dem Roman CASPAR

HIGH LINE, MITTELMÄSSIGKEIT,  AND 
THE UNBORN CHILD

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Foto © Beate Rothmaier
Interview with Writer in residence
Beate Rothmaier


Juliane Camfield, Deutsches Haus at NYU: Please tell us about your experience of New York. What has changed since your first visit to the city, and how does living here differ from visiting?

BR: New York in my eyes has become an even busier and faster city. People always appear under pressure, areas like the East Village, the Lower East Side have changed a lot since my last visit in 1993. Gentrification has come, houses are wrapped in scaffolding, and many buildings have notices affixed to their walls with permits for rebuilding. And of course, New York after 9/11 is a wounded city. At the Ground Zero Memorial site I read the names of young women who died in the towers with their unborn babies and many memories came back from my last visit to New York, when I sat on top of the World Trade Center, carrying my first child. What gives me hope and pleasure is to see that New York is very much a city of young people. So many fresh faces everyday and everywhere.

Could you tell us something about your creative process and work routine? Do you have a preferred writing time or place?

My work routine doesn’t consist of being a writer-in-residence since it is very much attached to my home and usual environment. It is necessary to have as few enticements, attractions and irritations as possible when getting a novel written. During my residency I am constantly collecting the new impressions, images, words, and encounters, and I feel like a whale drifting through the sea, filtering the water, holding back little nurturing treasures.

You are German, but have lived in Zurich, Switzerland for a long time. What has living in Switzerland taught you about being German?

What I learned is that being a German abroad means being associated with the darkest time in our history – the time of Nazism and World War II. And that Germans and Swiss people are separated by their so fundamentally different historical experiences.

What books are you reading right now?

At the moment I am finishing the essays Living, Looking, Thinking by Siri Hustvedt, whose work always stimulates me. As for literature I have the pleasure of reading Oskar Maria Graf’s novel Flucht ins Mittelmässige which allows me to dive into the scene of German exiles during the fifties in New York: their struggles, intrigues and how they deal with the clash of Old European values and the new world in America. When coming to New York I discovered the poems of Edna St. Vincent Millay, one of America’s great poets, who is nearly unknown in Europe.

FRAU KAIN

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Foto © Beate Rothmaier
Wind seit Tagen Staubwolken wilde Hektik alles jagt scheint stillzustehen über dem Wüstental in dem ich wohne Wasser will ich holen trete vor das Zelt da seh ich ihn kommen ein Schemen in der grauen und gelben Luft flattern die Gewänder an ihm das Haupt verhüllt die Stirn gesenkt gegen den Sandsturm geht er langsam auf das Lager zu geht in meine Richtung kommt näher gleichgültig schreite ich den Krug auf dem Kopf mit wiegenden Hüften der Wind bläht mein Kleid gehe sehr langsam damit er mich betrachten kann zurück und setze das schwere Gefäß ab und schwanke dabei nur leicht husche ins Zelt linse zwischen den Planen hindurch nach ihm und sehe ihn da sitzen kauern eher einen Steinwurf weit entfernt und wie er wartet eine Nacht, noch einen Tag und nochmals eine Nacht (..)

Geschichte einer Schattengestalt. Das Alte Testament errechnet das Alter der Menschheit auf ungefähr 6000 Jahre. Wissenschaftliche Erkenntnis datiert das Auftauchen des Homo Sapiens zurück auf 190 000 Jahre. Es kollidieren: Anthropologie und Bibelexegese. Evolutionstheorie und Kreationismus. Geschichtsschreibung und Prophetie. Und in diesem Zusammenprall erscheint eine Frau, die allen gleichermaßen angehört. Denn diese unterschiedlichen Annäherungen haben etwas gemeinsam, etwas, das sie miteinander verbindet: sie alle erzählen uns eine Geschichte. Und in dieser Geschichte erscheint als zentrale Gestalt: diese Frau. Sie ist alles in einem: eine Erzählfigur, eine geschichtliche Chiffre und eine biblische Gestalt. Es lohnt sich, diese Frauenfigur im Zentrum der Geschichten näher anzuschauen.
Unscheinbar ist sie, ohne Hintergrund, ohne Familie, ohne Freunde und besondere Merkmale, ja sogar ohne Namen. Nennen wir sie daher, wie das lange Zeit und heut noch vielerorts üblich ist, nach dem Namen ihres Mannes: Frau Kain. (..)
Beide Texte vollständig in: Neue Wege, Beiträge zu Religion und Sozialismus,
Heft 1/2015. Foto & Text © Beate Rothmaier

STILLE, EXIL UND LIST

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Foto © Beate Rothmaier
Atelierstipendium der Kulturstiftung Landis & Gyr, Zug.
August 2015 bis Januer 2016 in LONDON.

Writer in Residence at Deutsches Haus, New York University, NEW YORK CITY, April/Mai 2016.
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Foto © Beate Rothmaier

DAS FRAGILE GLEICHGEWICHT DES LEBENS

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Cover © Christine Hunold
Ein Perspektivwechsel setzt die Fähigkeit zur Selbstobjektivierung voraus. Um mich von außen betrachten zu können, muss ich aus mir heraus- und einen Schritt zurücktreten. Die Beherrschung dieser schwierigsten Disziplin künstlerischen Schaffens zeichnet die Arbeit
Christine Hunolds seit vielen Jahren aus. Schöpferisches Arbeiten verlangt radikale Subjektivität. Umso überraschender der Wechsel in die objektive Außensicht: Christine Hunolds Arbeit „Es gibt Tage“ realisiert beide Aspekte nicht nur, sie verschränkt die Perspektiven. Sie konfrontiert die Zeichnung mit der Fotografie mit dem Text.
Initiiert durch eine existenzielle Erfahrung stellt die Künstlerin die subjektivierte Außensicht von Kinderfotos dem völlig objektivierten Körpergeschehen im Inneren der Zellen gegenüber, deren Degenerierung Hunold durch Zeichnungen und computerbearbeitete Makroaufnahmen in Abstraktion überführt. Die entstehenden Kippeffekte vom Innen ins Außen, vom Subjektiven ins Objektive, von den extraterrestrisch anmutenden fraktalen Zellgebilden zum
unverstellten Blick des Kindes in den Schwarzweißfotos verbindet – wie die Querstange einer Wippe – der gebetsmühlenartige fast meditative Rhythmus der Texte „Es gibt Tage…“.
Die Textzeilen und die immer aufs Existenzielle zielenden Fragen stabilisieren die auseinanderstrebenden Bildelemente des Werks – Zeichnungen, Fraktale und Fotos – in einem prekären Gleichgewicht und versöhnen Innen- und Außensicht. „Es gibt Tage“ ist eine große Gedankenreise über die Fragilität der menschlichen Existenz.
​
© Beate Rothmaier 2014
Zum Buch  Es gibt Tage von Christine Hunold

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